~8 Jahre später~
„Warum machen wir das jetzt nochmal, Sola?“, knurrte Luno wütend und starrte wiederholt ungeduldig auf seine Uhr. Die vielen Menschen auf dem Hauptplatz der Stadt waren ihm unangenehm und ungewohnt.
Ich spürte, wie gerne er wieder zurück zum Zenit gerannt wäre. Und ich konnte es ihm nicht verübeln.
Er, Stella und ich hatten aus der damaligen Bruchbude eine ansehnliche, fantastische Behausung gebaut: unsere kleine Welt oder eben Zenit, wie Stella es getauft hatte.
Nur hin und wieder kamen wir in die Stadt; wir, die seltsamen Kinder, die zurückgezogen in der Einsamkeit leben.
Die drei Freunde.
Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, Luno zu überzeugen, trotz allem an der Verlosung teilzunehmen. Natürlich verspürten wir alle drei nicht das geringste Bedürfnis, unsere Heimat zu verlassen. Selbst wenn der Mond, ja der ganze Himmel selbst auf uns herabfallen sollte, wir würden über das Meer zum riesigen Gestein sehen, wie es auf die Erde stürzt und wir würden in seinem feuerroten Licht tanzen und singen.
Wir wollten hier nicht weg.
Die kleine, feine Stimme der Neugierde, die mich im Leben schon viel zu oft geplagt hatte, konnte ich leicht ignorieren. Auf einem riesigen Schiff eingesperrt, unter künstlichem Licht, weg von Natur, Freiheit und der Sicherheit meiner seltsamen, kleinen Familie- das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Luno knurrte erneut ungehalten. Ich musste schmunzeln. Freundschaftlich boxte ich ihm gegen die Schulter.
„Hey, wir ziehen die dämlichen Lose, werfen sie beiseite und gehen nach Hause. Dann hören die Leute vom Ordnungsamt auch endlich auf, ständig bei uns zu klingeln und uns mit der Auslosung zu nerven, in Ordnung?“, mit diesem Argument hatte ich Luno bereits ein paar Stunden zuvor überzeugt.
Er drehte sich zu Stella um und zog sie in seine Arme. Stella sah noch blasser aus als sonst, tiefe Augenringe lagen unter ihren grünen Augen, doch sie lächelte.
Ich schaute weg, auf die Schlange vor uns, die sich nur langsam weiter bewegte. Der Anblick der Menschen, die schrien, weinten, strampelten, weggezogen wurden und um sich schlugen, ließ mich merkwürdig kalt.
Es waren nur Fremde.
Ich hatte niemals Probleme, mich anderen Menschen oberflächlich zu öffnen. Ich könnte mit meinem Vordermann ein nettes Gespräch über das Wetter führen, doch ich würde rein gar nichts dabei fühlen. Es war eine nützliche Fähigkeit, die wir drei uns antrainiert hatten, da wir gelegentlich auf die Güte und die Sympathie der anderen Menschen angewiesen waren.
Stella und Luno, mein Stern und mein Mond, waren mein ein und alles, meine einzig wahre Familie. Sie und meine Heimat, der Zenit, waren fast alles, was ich zum Überleben brauchte.
Ich drehte mich um und schlang meinen Arm ebenfalls um Stellas schmale Schultern. Unser fröhliches Plaudern erhob sich laut über die Anspannung und das leise Klagen der Menschen. In Lunos Augen sah ich meine eigene Schadenfreude über den Kummer der Menschen. Sie würden kein Glück mehr finden, weder in ihren Hütten, auf den Weltuntergang wartend oder in der ekelhaft künstlichen Welt des Schiffes, dass sie von hier wegbringen würde.
Doch wir, wir hatten nach diesem Tag wieder unsere alte, geliebte Ruhe zurück. Nicht mehr lange, natürlich, aber wir würden auch noch die letzten Sekunden hier genießen.
In Gedanken bei einem schönen Nachmittag in unserem Garten, mit kaltem, süßen Tee und Stellas Zitronenkuchen, realisierte ich fast zu spät, dass wir bereits an der Reihe waren.
Mein richtiger Name kam erst nach einigem Überlegen über meine Lippen. Die Frau, die die mir inzwischen fremd gewordenen Worte von ihrer Liste strich, sah müde und stumpf aus. Der Kummer der Menschen, die bereits ihr Schicksal gezogen hatten, schien nicht spurlos an ihr vorüber gegangen zu sein.
Luno kam nach mir, erst als Stella ihren Namen sagte, schien die Dame zu zögern. Sie zog meine Freundin beiseite und redete kurz auf sie ein. Sie bedeutete Luno und mir, schon einmal vorzugehen. Luno zuckte mit den Schultern und erlaubte sich die Dreistigkeit, sich fröhlich pfeifend zur Urne zu begeben. Ich folgte ihm glucksend.
Ich hätte es besser wissen sollen.
Ich hatte nie so große Ansprüche an diese Welt gehegt.
Ich wollte nur mein bescheidenes, glückliches Leben leben.
Ich wollte nur bei meinen Freunden sein, bis der Mond auf die Erde stürzte.
Hätte ich gewusst, was uns erwartet, hätte ich Luno niemals überredet, mit uns hierher zu kommen. Hier, zum Eingang, in unsere - meine- ganz persönliche Hölle.
Luno zog einen Zettel und reichte mir, sehr zum Missfallen des zuständigen Soldaten einen zweiten.
Die dunklen, klaren Konturen der Striche auf unser beider Lose zeichneten sich im hellen Licht der Mittagssonne überdeutlich ab.
Luno schaute mich an.
Dann grinste er.
Ungeachtet warf er den Zettel hinter sich und wollte sich dem Strom an Trauernden anschließen, als der Soldat auf das positive Los aufmerksam wurde.
„Junger Mann“, rief er wirsch und packte Luno bei den Schultern. Ich hätte reagieren sollen. Vielleicht hätte das ja doch irgendeinen Unterschied gemacht.
Luno knurrte wütend und schüttelte die fremde Hand grob ab.
„Fassen sie mich nicht an! Ich werde keinen Fuß auf ihr beschissenes Schiff setzen. Ich gehe jetzt nach Hause und…“, der Soldat unterbrach ihn, indem er einen weiteren heranwinkte und die beiden meinen besten Freund bei den Schultern packten.
In diesem Moment schaffte ich es, mich aus meiner Starre zu befreien und stürzte, noch immer meinen Zettel in der Hand, in die Abschiedszone. Luno schien nicht zu fassen was vor sich ging. Ein Soldat der abgekämpft aussah und nicht in der Laune für lange Erklärungen zu sein schien, schrie Luno etwas ins Gesicht. Meine Ohren klingelten, als zwei weitere Soldaten sich drohend hinter mir aufstellten.
„Sie wurden ausgelost für die Endeavor. Sie haben keine Wahl, also machen sie es uns nicht schwerer als es ist. Kein Tauschen, kein Wechseln, wer ein gutes Los zieht, kommt mit, wer nicht, bleibt hier und damit basta.“
Ich glaubte meine Welt würde zusammenbrechen.
Luno starrte mich an, seine Panik brach mir das Herz.
"Stella!“, rief er und plötzlich realisierte ich, was er meinte. Meine Knie begannen zu zittern und mein Herz schlug so schnell, als wollte es mir aus der Brust springen. Ich stürzte zum Zaun, der die Gewinner von den Verlierern trennte und sah Stella dahinter stehen. Sie lächelte mir aufmunternd zu.
„Sola“, wisperte sie und schniefte. „Sie haben mein Attest vom Arzt. Ich habe Krebs im Endstadium. Einfach so. Ohne irgendeinen plausiblen Grund.“, sie lächelte und strafte ihre grausame Offenbarung lügen.
Mein Gehirn erkannte viel zu langsam, was das bedeutete.
Ich bemerkte nichts mehr.
Nicht das Rufen der Menschen, nicht die gebellten Befehle der Soldaten und auch nicht Luno, der sich losgerissen hatte und neben mir aufgetaucht war. Alles was ich hörte, war dieser eine Satz, ein paar Wörter, die meine ganze Welt in sich zusammenfallen ließen.
„Ich kann nicht mitkommen…“.
Ich glaubte mein Herz würde anhalten.
Stella, meine kleine, zerbrechliche Stella und zwischen uns ein undurchdringbarer Zaun. Ich wollte nichts lieber als weg von hier, weg, zum Zenit, ans Meer, zusammen mit Luno, der mich fassungslos anstarrte.
„Deine Schuld…“, seine Stimme holte mich in die Realität zurück. Sie zitterte, als er mich anklagend anstarrte. Dann schien sich ein Schalter bei ihm umzulegen.
„DAS IST ALLES DEINE SCHULD!!! DU HAST UNS HIERHER GEBRACHT! DU HAST DAS GETAN! ES IST DEINE SCHULD, DEINE SCHULD…!“, die Ohrfeige knallte so laut, dass sie mir den Atem nahm und ich nach hinten kippte.
Ich spürte keine Wut, keinen Schmerz. Ich spürte schon lange nichts mehr.
Mein Blick verschwamm unter Tränen, ich hörte, wie meine beste Freundin wehleidig aufschrie, ich sah, wie die Soldaten Luno von mir wegzerrten.
Er war auf mich losgegangen. Er hatte die Regeln verletzt.
Ich schloss die Augen und stöhnte.
Luno würde nicht mitkommen dürfen. Sie würden ihn für diese läppische Ohrfeige rausschmeißen. Die Ironie dieses Faktes raubte mir erneut den Atem.
Der Mond hatte dafür gesorgt, dass wir unsere geliebte Heimat verlassen mussten.
Und mein persönlicher Mond hatte sich von mir abgewandt.
Zu recht.
Und dann ein letzter, erwärmender Gedanke; Stella würde nicht allein sterben. Beide würden zusammen im hellen Licht des Feuers tanzen, wenn der Mond auf die Erde stürzt und ich meine Strafe in dem ewigen, metallenen Bauch des abscheulichen Schiffes absitzen muss…
"God bless us everyone,
We are the broken people
Living under a loaded gun"